Die Kontinente. Eine neue Ikonografie

"It doesn´t take much imagination to picture the world in its early incarnation as Pangaea, the supercontinent that, sometime in the mid-late Jurassic Period, split up into two land masses (known as Laurasia and Gondwanaland), which some 80 million years later broke apart to form the continents as we now know them. It´s basically a giant jigsaw puzzle. A few of the pieces are missing, and a couple of others have become damaged or warped over time, but it can be reassembled." - Michael L. Sand : Continental drift -

Bedeutende Bilder sind in den letzten Jahrzehnten entstanden, die die fünf Kontinente, die Welt darstellen: die Buckminster Fuller Map von Jasper Johns, die World Map von Öyvind Fahlström, die gewebten Kartenbilder von Aligieri e Boetti u.a. Allen Künstlern war bekannt, dass mittlerweile die Erde von Satelliten bis in ihre verborgensten Winkel fotografiert und vermessen war, und dass zugleich kein dauerhaftes Bild entstehen konnte, weil ihre Oberfläche sich nun mehr als je zuvor stündlich veränderte. Die Haut der Welt ist ein neuartiges Puzzle geworden, dessen Teile zusammenzusetzen in den Möglichkeiten des Menschen liegt. Auf dieser Haut gibt es keine weissen Flecken mehr, und die Zugänglichkeit des gesamten Globus scheint gewährleistet. Folgerichtig werden überall Informationen über die Kontinente produziert und empfangen, die gegenseitige Kenntnisnahme und Vertrautheit wächst.

Thomas Hirschhorn hat in grossen Assemblagen 1999 die Kontinente als separate Assemblagen/Bricolagen konstruiert, die ihre kartografischen Umrisse und Bilder kombinieren, die sich mit ihnen verbinden lassen. Er folgt dabei ganz und gar der Bildsprache der Tourismuswerbung (Surfer und Toyota Landrover für Ozeanien/Australien, Elefant und Palme für Afrika, Coca-Cola, Indianer und Hochhäuser für Amerika, Buddha, Fujiyama und Wasserträger für Asien, Eiffelturm, Pantheon und Big Ben für Europa) und fügt die Fotokopien auf je einem Holzbrett ein: Anschlagtafeln mit Texten und Bildern, die zufällig und austauschbar erscheinen, aber Beachtung fordern. So erkennt man einen Zeitungsbericht über europäische Hofmalerei des 17. Jahrhunderts mit Selbstbildnissen von Velasquez und Rembrandt bei Afrika, liest Texte von Nietzsche ("Philosophy of the Future. Beyond Good and Evil. Maximes and Interludes: 63-185") bei Asien, und die europäische Texttafel zeigt Bilder und Berichte zu Arno Breker und der berüchtigten Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" 1937. Der amerikanische Kontinent ist rot, der australische blau, Afrika schwarz, Asien gelb und Europa grün. Alle Zuordnungen von Bildern, Zeichen, Symbolen, Farben zu abgebildeten Gegenständen sind beiläufig, die Kontexte sind kurzfristig montiert. Ihr Anspruch auf Glaubwürdigkeit ist gering. Sie erscheinen in Spielformen, die humoristisch geprägt sind.

Jene Kontinente, die in den Vorstellungen der Menschen existieren, die sich aus Umrissen, Erinnerungen, Zeichen und Symbolen zusammensetzen, verändern sich unter Umständen heute langsamer als die Kontinente selbst, aber die "Grossen Erzählungen" über sie, die sich fortpflanzende Texte - Märchen, Romane, Epen - geschaffen haben, leben in ihrer Ikonografie kaum noch fort. Eine neue Ikonografie und neue Erzählungen entstehen.

Einige Ausstellungen
Nomaden und Sesshafte

Seit Gilles Deleuze und Felix Guattari 1985 das Konzept des Künstlers als Nomaden bekannt gemacht haben, zeigt es ebenso dort Wirkung, wo Künstler ihr Selbstverständnis in der Entdeckung suchen, dass ihnen die ganze Welt zur Verfügung steht, wie dort, wo die Organisatoren grosser Ausstellungen den internationalen Anspruch ihrer Projekte begründen. 1993 gab sich die Biennale in Venedig das Thema "Cultural Nomadism". Zum ersten Mal stellten hier afrikanische Künstler ihre Werke aus, und es entstand eine internationale Debatte über Erwartungen. Was wird von einem afrikanischen Künstler erwartet? Wie entspricht er dieser Erwartung oder wie entgeht er ihr? In der Rolle des nomadischen Künstlers zeichnete sich eine Möglichkeit ab, das Dilemma aufzulösen. Der Nomade treibt zwischen den Kulturen der Sesshaften und schöpft ein Selbstgefühl der Freiheit aus dieser Wurzellosigkeit. Die weltreisenden Künstler schienen einer eigenen "république géniale" (Robert Filliou) anzugehören, einem "neuen kulturellen Kontinent jenseits geopolitischer Grenzen", den Peter Weibel in seiner Ausstellung "Inklusion - Exklusion" suchte: "Es war ein besonders aufregendes Erlebnis, diesen immateriellen Kontinent, dieses existierende, global verzweigte Netz von KritikerInnen, KollegInnen, KünstlerInnen, KuratorInnen und Galerien Schritt für Schritt zu entdecken. Das Land war also schon lange da, nur die Landkarte noch nicht gezeichnet." (Weibel) In der Tat bedürfen Künstler keiner nationalen Kulturen. Ihre Bildsprache folgt nicht den Sprachgrenzen. Ihre Gemeinschaft ist ihrer Eigenart nach global und wird durch Ausstellungen, Kataloge, Bücher und Zeitschriften konstituiert. Sie können aber dort eine wichtige Aufgabe übernehmen, wo es um Korrekturen, neue Kodierungen und Transformationen nationaler oder anderer Gruppenidentitäten geht.

Ein Gespräch zwischen den Kontinenten kann freilich nicht nur auf der beweglichen Ebene der kulturellen Nomaden geführt werden. Zu leicht entsteht hier die Sphäre einer Autonomie der Kunstgeschichte, die sie aus allen sozialgeschichtlichen Diskursen isoliert. In der Ausstellung "Kunstwelten im Dialog" des Kölner Museums Ludwig 1999 fand noch einmal diese feine Konversation in einer wunderbaren Fülle an kostbarem Material statt. Aber hinter den autonomen Räumen dieser Kunstgeschichte türmen sich die Dokumente postkolonialer Diskurse und Anträge auf Staatsbürgerschaften auf Grund neuer Gesetze. Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, nicht die Wanderer zwischen den Kulturen und nicht die neo-kolonialen Ausbeuter unter den europäischen Künstlern zu betrachten, sondern die, die mit ihrem eigenen kulturellen Erbe in einem anderen Kontinent sesshaft zu werden bemüht sind. Ich habe 1993 im Aachener Ludwig Forum die Ausstellung "AFRICA EXPLORES. 20th century African Art" des New Yorker Center for African Art gezeigt und bin dort Künstlern wie Sokari Douglas Camp aus Nigeria und Chéri Samba aus Zaire begegnet, die in ihren Werken ein ganz anderes Verhältnis zur Kultur ihrer Herkunftsländer zeigten als etwa Frédéric Bruly Bouabré in Senegal, der durch die Ausstellung "Magiciens de la Terre" 1989 bekannt wurde. Er war zutiefst sesshaft dort, wo er geboren war, und bediente sich der Sprache der ehemaligen Kolonialherren, um enzyklopädisch Bilder für eine afrikanische Identität zu entwickeln; Chéri Samba hat den Konflikt zwischen zwei Kulturen weniger zur Form als zum Inhalt seiner Arbeit gemacht, und Sokari Douglas Camp, die mit dem Land ihrer Herkunft sachlich wenig verbindet, schafft umfangreiche Bildensembles einer Erinnerungskultur, in deren Mitte das Land ihrer Vorfahren steht. Sie ist in London sesshaft. Für sie und für viele andere Künstler der Welt, die in europäischen Kunstzentren arbeiten, gilt die Bemerkung von Okwui Enwezor:

"But we must understand that, in reacting against this notion of Latin Americanism, of Africanism, one is not necessarily reacting against stereotypes - one is reacting against expectations. We´re dealing with the structures of institutions that for many years have had the upper hand in defining what African - or Latin American, and so on - means. We shouldn´t forget either how artists themselves are implicated in producing these clichés of identity. They´re very marketable." (Continental Shift)

Das Projekt CONTINENTAL SHIFT ist aus vielen Gesprächen hervorgegangen, an deren Beginn der Kurator und Künstler Bernhard Lüthi beteiligt war. Damals erschien als Leitbild des Projektes das Foto einer Installation des israelischen Künstlers Benni Efrat, das ein lebendes Kamel, beladen mit Video-Monitoren zeigte: die Karawane, der ein Stillstand nicht gewährt ist. Aber gleichzeitig zogen wir aussereuropäische Künstler, Literaten, Komponisten in unsere Gespräche, die vorführten, dass die Begegnungen der Kontinente nicht an den Orten der Kultur und in den Medien stattfinden, sondern auf unseren Strassen, in unseren Ämtern, in den Chefetagen unserer Kulturproduzenten. Wir hatten Gelegenheit, über Gastgeber und Gäste zu sprechen und Rechte, die ein Gast durch dauerhafte Mitwirkung an einem Gemeinwesen gewinnt. "Schwarz Rot Gelb. Kulturelle Vielfalt in Deutschland" "Heimat Kunst" ist ein Projekt des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, das medien-übergreifend im Sommer 2000 dieses Gespräch aufzunehmen scheint. CONTINENTAL SHIFT hat sich in andere Richtungen dadurch entwickelt, dass ein Team von Kuratoren grenzüberschreitend für Museen in Aachen, Heerlen, Lüttich und Maastricht arbeitet. Die sozialen Hintergründe in drei Ländern unterscheiden sich. Die Kolonialgeschichte Belgiens und der Niederlande ist eine andere als die Deutschlands und hat andere Folgen für die Bevölkerungsstrukturen. Aber auch die Orientierungen der Kunstwissenschaftler unterscheiden sich. Da sich viele chinesische Künstler (umgeben von vielen Chinesen) in den letzten dreissig Jahren in Paris niedergelassen haben, interessierten sich die frankophonen Lütticher Wissenschaftler dafür, in dem gemeinsamen Ausstellungsprojekt einen chinesischen Schwerpunkt zu setzen und mit der chinesischen Kuratorin zusammenzuarbeiten. Die Maastrichter wählten einen afrikanischen Schwerpunkt, weil Werke afrikanischer Künstler der Gegenwart bisher in den Niederlanden wenig gezeigt worden sind. Heerlen entschied sich für das Kapitel Iran/Armenien, weil es das kleinste, überschaubarste schien, dem kleinen Haus angemessen. (und doch musste ein grösseres Haus gefunden werden.) Das grossräumige Ludwig Forum steht für einen extremen Kontrast zur Verfügung: (Latein-) Amerika einerseits, Japan - Korea andererseits. CONTINENTAL SHIFT zeigt Werke sesshafter Künstler, die sich an den Orten ihrer Arbeit und über sie hinaus bemerkbar und bekannt gemacht haben und deren Arbeit Spuren in den Werken europäischer, aber auch von Künstlern ihrer Herkunftsländer zeigt. In diesen Flüssen und Rückflüssen entstehen Formen eines Dialoges der kontinentalen Kulturen, der im Mittelpunkt unseres Interesses steht.

Das dynamische Konzept des Nomaden kennzeichnet die achtziger Jahre, ihre geopolitischen Turbulenzen und den Zusammenbruch der Grenze zwischen Osten und Westen. Seit zwischen den Kontinenten eine grössere Ruhe eingetreten ist, kreisen die Gedanken und Projekte zunehmend um Begriffe wie "der andere", "altérité", "otherness", "othering", "Der Fremde", "Der fremde Blick" (ein Projekt des Kultursekretariates Westfalen). Hier begegnen wir einer Blickrichtung, in der sich zwei Dialogpartner fragen, ob sie nicht jeweils Erfindungen des Anderen sind - und folgerichtig wesentliche Elemente ihrer selbst. Wahrscheinlich erschafft der/die "Andere" dem 20. Jahrhundert eine ihm eigene grosse "Erzählung".

Die Sammlungen Ludwig
Konsequenzen

Seit der Entdeckung Amerikas 1492 ist "Amerika" in der Fantasie der Europäer eine der grossen "Erzählungen" im Sinne Lyotards, ein irrationaler Komplex von Legenden und Träumen, Gegenstand einer Mythologie, die sich nicht darauf beschränkt, zahlreiche Schriftsteller (wie Kafka), Komponisten (wie Debussy), Bildende Künstler (wie Mondrian oder Beuys) zu beschäftigen, sondern die Millionen von Einwanderern einlädt, sie fortzuschreiben. Joseph Brodsky erzählt von einer geleerten corned-beef-Dose, die er in Leningrad wie einen kostbaren Edelstein als Vase auf dem Fensterbrett bewahrt habe. Die amerikanischen Konsumgüter, die die Europäer nach dem zweiten Weltkrieg kennen lernten (wie Lucky Strike und Coca-Cola), sind Ikonen der Kulturgeschichte geworden. Der enorme globale Einfluss der amerikanischen pop art ist ein Kapitel in der Geschichte der Amerikanisierung der Welt, die 1945 nicht begann, die aber nach dem Krieg Dimensionen einer Kampagne annahm, deren Ziel war, ein ideologisches System in alle Winkel dieser Erde zu transportieren.

Als der Aachener Sammler Peter Ludwig 1966 begann, eine grosse Zahl wichtiger Frühwerke der amerikanischen pop art zu erwerben und in den Museen in Aachen und Köln auszustellen, war er zutiefst davon überzeugt, dass diese Werke ein gegenwärtiges "Lebensgefühl" ausdrückten, das nicht nur ihn, sondern unendlich viele Menschen seiner Generation mitreissen würde. (Das Wort "Lebensgefühl" steht im Titel seiner Doktorarbeit "Das Menschenbild Picassos als Ausdruck eines generationsmässig bedingten Lebensgefühls" 1950.) Als er den Horizont seiner Sammlung erweiterte und sich verstärkt seit 1980 in den Kunstlandschaften des Ostblocks engagierte, hörte er nicht auf, nach den Einflüssen und Spuren jener amerikanischen pop art der sechziger Jahre zu suchen, die zugleich Symptome jenes "Lebensgefühls" waren, das er in der amerikanischen Kunst entdeckt hatte. Naturgemäss erschienen mehr und mehr dieser Symptome in den Kunstszenen der DDR, der UdSSR, Ungarns, der Tschechoslowakei, Bulgariens, Rumäniens, Kubas und Chinas, so dass heute die Sammlung Ludwig wie keine andere erlaubt, die globale Wirkungsgeschichte der pop art nachzuzeichnen. Die Symptome waren politische und kündigten den Zusammenbruch der ideologischen Systeme und die Transformation der Staaten an. Sie waren auch Elemente jener Amerikanisierung, die sich global intensivierte.

Aber so wie Ludwig in Picasso den "Spanier" bewundernd schildert, so suchte er auch die Eigenarten der amerikanischen Kunst als solche zu empfinden, die nicht ihm, dem Deutschen, gehörten; und als die westdeutschen Künstler Georg Baselitz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Jörg Immendorf und der Ostdeutsche A.R.Penck eine "Erzählung" über Deutschland, den deutschen Künstler und die deutsche Geschichte entwarfen, die bis zum Text "De Germania" von Tacitus zurückreichte, erwarb er mit grossem Engagement wichtige frühe Zeugnisse ihrer Arbeit. Er wusste, dass diese Werke auch einen starken anti-amerikanischen Affekt, ein widerständiges Bewusstsein enthielten, das in ihm, dem zutiefst gedemütigten Deutschen, das Lebensgefühl eines "Rekonvaleszenten" erzeugte.

Die Frage "Was ist englisch in der englischen Kunst?", die Nikolaus Pevsner zu einem bekannten Buch veranlasste, stand fortan am Beginn jener Projekte von Länderausstellungen, zu denen mich die Sammelarbeit des Peter Ludwig veranlasste. Der Antagonismus zwischen nationalen Merkmalen, die sich aus der Kunstgeschichte der unterschiedlich geschlossenen Gesellschaften der Ostblockländer ablesen liessen, und denen eines internationalen gegenwärtigen Stils offener Gesellschaften, der sich vorzugsweise in Spuren der amerikanischen pop art manifestierte, war häufig mit den Händen zu greifen und gliederte nicht selten die Künstler in zwei Gruppen: die Offiziellen und die Dissidenten, die Mitglieder der Verbände bildender Künstler und den underground - und sogar Russen und Juden. Ludwig und andere Sammler ebenso wie Kritiker, die ihm folgten, wussten, dass sie den Antagonismus dadurch verschärften, dass sie die Gesetze des europäisch-amerikanischen Kunsthandels im sozialistischen Block einführten und die traditionellen Wertschätzungen der Kunstprodukte auf den Kopf stellten.

In den Konfrontationen von nationalen und internationalen Stilen spiegeln sich politische Konflikte. Wenn ich hier einen internationalen Stil an der amerikanischen pop art festmache, so weiss ich auch, dass sie mit ihrer Bildwelt sehr vordergründig die amerikanische Zivilisation und die Ideologie der offenen Gesellschaft transportiert und in ihren Übersetzungen in die Massenmedien ein unermessliches Publikum erreicht. Als sich Ludwig mit der Gründung eines Museums für internationale Kunst der Gegenwart in Peking beschäftigte und wir Ausstellungsprojekte chinesischer Kunst entwickelten, wurde deutlich, dass in einer hoch entwickelten Bildkultur wie der chinesischen schon die Übernahme eines Mediums wie der Ölmalerei auf gespannten Leinwänden am Beginn des 20. Jahrhunderts als heftige Störung einer traditionsbeladenen Nationalkultur gewirkt hat und immer dann verfemt wurde, wenn Appelle an die nationale Identität notwendig schienen. Die Dialektik zwischen partikularen und universalen Interessen erscheint in Peter Weibels Text als Prozess, der zu einem "Hybriden" führt. Den Begriff der "Weltkunst", der am Ende einer Synthese stehen könnte, erklärt er aus dem Begriff der "Weltliteratur" und führt in einem Exkurs über Goethe aus: "Weltliteratur im Sinne Goethes war also ein Hybrid, aufgebaut auf der Dialektik der Differenz von Partikularität (Nationalität) und Universalität (Gemeingut der Menschheit)." Er schliesst daran einen Ausblick und eine Zielvorstellung: "Neben der literarischen müsste es auch eine nicht-eurozentristische künstlerische Komparatistik geben." Projekte wie "Inklusion/Exklusion" und "Continental Shift" versuchen, diese kunstwissenschaftliche Komparatistik aufzubauen. Die Sammlung Ludwig bietet dazu ein hervorragendes Studienmaterial.

Aber der Begriff von "Weltkunst", so wie Weibel ihn aus der Vorstellung von Weltliteratur von Goethe und seinen Zeitgenossen ableitet, ist zu allgemein, um die Dialektik von nationalen und interkontinentalen Stilen zu fassen, weil er den politischen Hintergrund ausklammert. So sehr der Sammler Ludwig sich der Erbschaft Goethes verbunden fühlte, so sehr empfand er sich als öffentliche Person, die politische Energien bewegte. Zu gleicher Zeit, in der er die Sammlungen osteuropäischer Kunst der Gegenwart erwarb, schuf er einen Sammlungsblock der russischen Avantgarde der zehner Jahre, die exemplarisch für das 20. Jahrhundert die politische Bedeutung bildkünstlerischer Innovationen manifestierte.

Folgerichtig interessierte sich Peter Ludwig nicht für die Kunst von Exilierten, Emigranten und hörte auch auf, Werke von Künstlern zu sammeln, sobald sie sich aus ihren angestammten Kulturlandschaften entfernten. Nach dem welthistorischen Bruch von 1989 engagierte er sich konsequent dort, wo der Bruch noch nicht vollzogen war: in Kuba und in China. Nordkorea hat ihn nicht interessiert.

Am Ende dieses Kapitels möchte ich eine Einschränkung beifügen: es versteht sich, dass ich den Sammler Peter Ludwig in meinem Diskurs benutze, um die historischen Voraussetzungen des Projektes CONTINENTAL SHIFT zu schildern. Um seine Leistungen zu würdigen, bedürfte es einer weitergehenden, differenzierten Betrachtung. Ver-kürzt, pointiert geschildert erscheint eine einflussreiche Position in einer turbulenten Epoche der zweiten Jahrhunderthälfte.

Alte Kontinente
Neue Nationen

Die internationale Künstlergemeinschaft beobachtet eine geopolitische Situation, in der sich Massenmigrationen und neue Formationen fundamentalistischer Nationalstaaten gegenüberstehen. In diesen entstehen Bilder im weitesten Sinn, die ihre Bezüge in der Tradition der Nationalkulturen suchen; die Migranten folgen dagegen einem oberflächlichen internationalen Leitsystem, das von transnationalen Wirtschaftskonzernen produziert wird. In dieser Dialektik sucht unser Projekt CONTINENTAL SHIFT einen Ort. Eine Dialektik von erster und dritter Welt beachtet es nicht mehr: "Die Massenmigrationen realer Personen und die globale Zirkulation kultureller Zeichen lassen heute das, was früher als dritte Welt woanders lokalisiert, ausgegrenzt und in seiner Realität verdrängt werden konnte, inmitten des Eigenen wiederkehren." (Bronfen/Marius: 6)

Unsere Perspektive ist sehr stark von Vorstellungen bestimmt, in denen das Konzept der Nation in Frage gestellt wird, so sehr wir selbst mit Sprachgrenzen, nationalen Medien, Problemen der Geschichtsschreibung, der Denkmäler und Mahnmale unseren Nationalkulturen verbunden sind. Ich habe 1973 mit dem französischen Künstler Robert Filliou in Aachen die COMMEMOR, eine Commission Mixte pour l´Echange des Monuments aux Morts gegründet und einen Austausch von Kriegerdenkmälern zwischen den grenznahen Städten Lüttich, Maastricht und Aachen vorgeschlagen. Das Projekt Fillious wurde in Lüttich für blasphemisch, in Maastricht für praktikabel und in Aachen für künstlerisch gehalten. Die Differenzen der Nationalkulturen gewinnen in den Grenzregionen an Transparenz. Ihre Profile entschärfen sich. Es ist sicher notwenig im Auge zu behalten, dass diese entspannte Haltung weder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion noch in asiatischen Staaten existiert. Sehr eindringlich schildert der Inder Arjun Appadurai "Traditionsängste im globalen Kunstkontext": "Das Bestreben, die Gegenwart in der Gegenwart zu repräsentieren, stellt überall ein Problem dar, ganz besonders vielleicht aber in Asien, wo die Macht des Staates, die Macht der gebildeten Klasse und das Prestige von Diskursen über Klassik, Kultur, Zivilisation und Nation so lange vorherrschend waren." Daraus resultiert eine Unsicherheit, Bilder zu bewerten, die aus traditionellen Nationalkulturen in interkontinentale Kontexte übertragen werden. Das Werk der Iranerin Shirin Neshat scheint hier exemplarisch. Es erhält sich die bedrohliche Fremdheit des Exotischen und überträgt sie in ein Grenzen sprengendes Problemfeld.

In geschlossenen Gesellschaften mit traditionellen Nationalkulturen greifen die Zwänge, die sie erzeugen, stark in die künstlerische Produktion ein und bestimmen ihre Distribution. Viele dieser Gesellschaften tragen die Krisen ihrer nationalen Identität heute eher in innerstaatlichen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen aus, als dass sie sich als Nationen gegen andere Nationen wenden. Offene Gesellschaften scheinen leichter elastische Ordnungssysteme zu entwickeln, indem sie traditionelle Nationenkonzepte in Frage stellen.

Die Migration selbst überträgt das Verhältnis von offenen zu geschlossenen Gesellschaften aus der geografischen kontinentalen Nachbarschaft in eine nationale Problematik. Denn Emigranten sammeln sich nicht nur an bestimmten Orten ihrer neuen "Heimat", die sie mit zahlreichen Hoffnungen besetzt hatten, sie rekonstruieren darüber hinaus eine bessere alte Heimat am neuen Ort. "Chinatown" ist eine besondere Form von China. Im schlimmsten Fall bildet sich die alte Heimat in der neuen als Ghetto aus.

Chinatown in New York, San Francisco oder Paris zieht zugleich eine grosse Menge von Einwohnern dieser Metropolen und Touristen an, und zahlreiche Künstler haben sich diesem eigenartigen Bildersaal der Emigrantennostalgie gewidmet. In diesen Aussenposten und Enklaven entstehen Spielformen der Exotik, die sie von ihrer Bedrohlichkeit befreien. Andy Warhol hat, sozusagen, nicht den chinesischen Staatsmann Mao Tse Tung porträtiert, sondern das Bild eines Idols in einem imaginären Chinatown entdeckt und verwertet. Chinesische Künstler sind ihm gefolgt, ohne die zynische Distanz zu erreichen.

Im Gegensatz zu den Einwanderern, die sich in ihren neuen Heimatländern in jenen Aussenposten versammeln, suchen die Künstler die Ausbildungsstätten der Kunst, die Akademien, die interkontinental bekannten Ausstellungsorte und jene Metropolen, in denen sich die Produktion und die Distribution von Kunst konzentrieren. An den Orten der Produktion suchen sie avancierte technologische Servicebereiche, und neben ihnen erwarten sie jenes hoch entwickelte merkantile System von Agenten, Konsulenten, Galeristen, Kritikern, Kuratoren, das in den sechziger Jahren von New York aus entwickelt worden ist. Nam June Paik, der koreanische Musiker-Experimentator, zog in den fünfziger Jahren nach Köln, weil der Westdeutsche Rundfunk dem Komponisten Stockhausen gestattete, ein Studio elektronischer Musik aufzubauen und bekannt zu machen. Der Video-Künstler Paik zog später nach New York, um an der Entwicklung der ersten Bild-Synthesizer teilzunehmen.

Das breite Oeuvre, das er bis heute entwickelt hat, steht aber unter der emblematischen Ikone des TV-Buddha. Kein Interpret wird bei Künstlern wie Paik oder Zao Wouki die Bezüge zur traditionellen Kultur ihrer Herkunftsländer zugunsten ihrer "Internationalität" vernachlässigen. Die Differenz wird nicht nur in ihren Werken, sondern mehr noch in ihren Wirkungsgeschichten ausgetragen.

Paik verliert in der Konfrontation kontinentaler Ikonen wie des Buddhas mit Rodins Denker niemals den Ausdruck entspannter Heiterkeit, jene Haltung, die wir mit einem asiatischen Philosophen klischeehaft verbinden. Sie scheint in der bildenden Kunst einen wachsenden Raum einzunehmen und ist sicher auch Ergebnis einer nie da gewesenen Verfügbarkeit aller kulturellen Bildarsenale. Appadurai entwickelt aus dieser Verfügbarkeit der traditionellen Nationalkulturen eine Vision: "Auf diese Weise könnte der Leviathan der Globalisierung gegen sich selbst gewendet werden, nämlich wenn diejenigen, die an der Produktion eines Ortes arbeiten, die Flucht aus den goldenen Käfigen ihrer Traditionen ergreifen und alle Traditionen als ihre potentiellen Paletten und Werkzeugkisten hernehmen...Dementsprechend könnten Orte und lokale Identitäten geschaffen werden, die mehr als bloss Wasser auf den Mühlen der nationalen Propaganda oder der Klassifikationsphantasien globaler SammlerInnen und TouristInnen sind. Selbstverständlich erfordert der Wunsch, sich alle Traditionen anzueignen, ein riesiges Mass an Anstrengung und sollte deshalb auch nicht vorschnell als Dilletantismus oder müssige Bricolage abgetan werden....Wenn KünstlerInnen und Intellektuelle diesen Ausweg aus der Traditionsangst suchen, könnte es ihnen gelingen, die Phantome der Wiederholung und Verdoppelung abzuschütteln, die das Projekt der Schaffung ‹alternativer Modernen› verfolgen."

Hybride - Hybris
Die Kulturwissenschaften haben für die Mischprozesse, die die Migrationen verursachen, Vokabeln gesucht, die die Naturwissenschaften entwickelt haben. Mestize (Mestizierung), Kreole (Kreolisierung: Edouard Glissant: "Die Welt kreolisiert sich."), Bastard, Hybride (der Kulturkritiker Homi K. Bhabha sieht in der Hybridität den zukünftigen "dritten Raum".) Bronfen/ Marius definieren, was "Hybrid" bezeichnet: "Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des sampling, des Bastelns zustande gekommen ist. In solcherart hybridisierten Kulturen kann nationale Identität bestenfalls noch eine unter vielen sein..."

In den Naturwissenschaften ist der Begriff des Hybriden nicht selten negativ besetzt. In der encarta Enzyklopädie plus 2000 wird zusammengefasst: "Hybriden kommen natürlich vor und spielen für die genetische Vielfalt eine wichtige Rolle. Künstlich kann man sie erzeugen, indem man die Geschlechtszellen verschiedenartiger Lebewesen kombiniert. Je näher die Eltern miteinander verwandt sind, desto besser gelingt die Herstellung einer Hybride. Unterscheiden sich die Eltern beispielsweise nur in den Merkmalsausprägungen eines oder mehrerer Gene, entsteht meist eine lebensfähige, fruchtbare Hybride. Hybriden von Tieren unterschiedlicher Arten sind dagegen oft unfruchtbar. Zwar können weibliche Maultiere, die aus der Kreuzung eines Eselhengstes mit einer Pferdestute entstanden sind, gemeinsam mit Pferde- oder Eselhengsten Nachkommen zeugen, Maulesel - Hybriden zwischen Pferdehengst und Eselstute - sind dagegen fast immer unfruchtbar... Pflanzenhybriden, die aus der Kreuzung zweier homozygoter (reinerbiger) Populationen einer Art hervorgegangen sind, zeigen oft die sogenannte Bastardwüchsigkeit oder Heterosis: Sie werden grösser, wachsen schneller und liefern somit höhere Erträge. Zierpflanzen kreuzt man beispielsweise, um grössere Blüten zu erhalten..."

Die Pflanzenmetapher für die Geschichte von Kulturen (und Epochenstilen in der Kunst) hat eine lange Geschichte: sie werden gesät, sie schlagen Wurzeln, sie wachsen, sie treiben Knospen, sie blühen auf, ihre Früchte reifen... Spätestens hier müssen wir sie erweitern oder gar erneuern: Pflanzen werden vor dem Aussterben gerettet, regeneriert und hybridisiert. So die Kulturen.

Man überträgt dieses Bild leicht in die gegenwärtigen Zustände der Kunst der australischen Ureinwohner oder der Makonde und Shona in Afrika und der indianischen Kulturen Amerikas, aber unendlich schwerer erscheint es, es dort zu gebrauchen, wo wir über eine interkontinentale Kunst sprechen. Es sei denn, wir liessen uns auf die Definition von Bronfen/Marius ein, die sich am leichtesten für die internationale DJ-Kultur und das anwenden lässt, was wir world music nennen. Gibt es also wirklich heute eine hybride Kunst? Wenn wir den Diskurs der Soziologen aufnehmen und die zeitgenössische Kunst im Kontext einer hybriden Kultur sehen, so setzen wir sie einem Spagat aus: sie ist dort Teil jener Kultur, die von Massenmigrationen geprägt ist, wo sie sich den Massenmedien öffnet und sie verwertet, und sie ist es dort nicht, wo sie sich ihnen verschliesst, die Distanz zu ihnen sucht, alternative Kulturmodelle entwickelt. Sie lässt sich vereinnahmen und sie grenzt sich aus. In dieser Dialektik erhält sie sich ihre beunruhigende Vitalität.

Ich möchte hier daran erinnern, dass in der griechischen Tragödie Hybris die Übertretung der göttlichen Gesetze meint. Der hybridisierte Mensch tritt also in eine neue Ära ein, in der er die alten Gesetze hinter sich lässt. Bronfen/ Marius referieren folgerichtig den fluxus-Künstler und Schriftsteller Dick Higgins: "Die kognitiven Fragen, die von den meisten Künstlern des 20. Jahrhunderts, Platonikern und Aristotelikern, bis etwa 1958 gestellt wurden, waren: Wie kann ich diese Welt, von der ich Teil bin, interpretieren? Und was bin ich in ihr? Die postkognitiven Fragen hingegen, die von neueren Künstlern seither gestellt werden, lauten: Was für eine Welt ist dies? Was ist in ihr zu tun? Welches meiner Ichs soll es tun?" SHIFT gewinnt hier eine Bedeutung, die in Kunstwerken ausgelotet werden kann, bevor die Gesellschaften, in denen sie entstehen, die Schübe spüren, denen sie unterworfen sind.

Zum Schluss
"Africa explores" hatte ebenso einen programmatischen Titel wie ein Buch des Kölner Ethnologen Julius Lips, der es, 1936 aus Deutschland vertrieben, 1937 in London und New Haven/USA publizierte: "The Savage hits back". Seine Witwe gab es 1983 in deutscher Sprache in Leipzig heraus: "Der Weisse im Spiegel der Farbigen". Beide Bücher drehten eine gewohnte Perspektive um - auf der Grundlage eines Zweifels: Ist der andere wirklich weniger interessiert daran, mich kennen zu lernen, als ich über ihn wissen will? Ich mag mir eine Bibliothek vorstellen, in der alle Bücher versammelt sind, die auf anderen Kontinenten über Europa geschrieben wurden. Die Kunstwissenschaft muss diesen Gedanken, der bei Aby Warburg im frühen 20. Jahrhundert auftaucht, ergreifen und ihren Horizont heute drastisch erweitern. Denn die Migrationen von Menschen erzeugen auch Wanderungen von Bildern, die wir mit denen der Zeit Karls des Grossen und Harun al Rachids, mit denen der Zeit der Kreuzzüge oder denen der Renaissance vergleichen können und die dennoch soviel mächtiger sind. Dabei tritt immer ein globales Bild vor Augen, das mit den Megalithkulturen entsteht: erste Städte werden gebaut, städtische Eliten entwickeln Elemente von Hochkulturen, die einen globalen Überbau schaffen, unter dem sich regional zentrierte Kulturen entwickeln. Diese, ungestört in relativer Abgeschiedenheit, schaffen ein Muster auf der Haut der Erde, über dem sich eine diaphane Struktur von Migrationswegen ausbildet, in deren Spinnennetzen sich einzelne Punkte wie Kristalle zu Metropolen auswachsen: Bagdad, Venedig, Paris, New York. Für die Künste erhält sich dieses Netzwerk bis heute. Die Raum- und Zeitvorstellungen, die es beherrschen, fordern aber, dass die Beteiligten ihre Geschichte in einem fernen Hintergrund sehen.

    (5 Farbabbildungen Hirschhorn mit Bildunterschriften: A1"Die fünf Kontinente (Asien)" 1999, Relief: Holz, Folie, Karton, Aluminium-Folie, Klebeband, Fotokopien 180 x 225 x 15 cm Argentinien, Privatsammlung Coutesy Galerie Arndt & Partner, Berlin
    A2 "Die fünf Kontinente (Afrika)" 1999 ebenso Belgien, Privatsammlung
    A3 "Die fünf Kontinente (Europa)" 1999 ebenso London, Privatsammlung
    A4 "Die fünf Kontinente (Ozeanien)" 1999 ebenso
    A5 "Die fünf Kontinente (Amerika)" 1999 ebenso Paris, Privatsammlung
    A6 Swen Gundlach, "Zwei Soldaten-Boris und Ghleb", 1990, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm, courtesy: Galerie Krings-Ernst, Köln, Foto: Ralf Berndt, Albert Wolf, Sammlung Ludwig, Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen
    A7 Erik Bulatov, "CCCP-Trademark", 1986, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm, Foto: Anne Gold, Sammlung Ludwig, Museum Ludwig, Köln
    A8 T. G. Nazarenko, "Reklame + Information", 1984, Öl auf Leinen, 184 x 184 cm, Foto: Anne Gold, Sammlung Ludwig, Museum Ludwig, Budapest
    A9 Wang Guangyi, "Die grosse Kritik - Maxwell House Coffee", 1990, Öl auf Leinwand, 150 x 100 cm, courtesy: Galerie Krings-Ernst, Köln, Sammlung Ludwig, Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen)